Integratives Transformationslernen – der fehlende Baustein im Change Management

27.02.22

Erfahren Sie, warum das „Integrative Transformationslernen“, bei dem konstruktivistische Wissenskonstruktion und transformative Reflexion verbunden werden, das ideale Lernmodell für Transformationsdesign ist. Anhand des Praxisbeispiels eines Nachhaltigkeitsprojekts eines Autohauses mit 15 Mitarbeitern zeigen wir Ihnen, wie Theorie und Anwendung zusammenwirken, um tiefgreifende und skalierbare Veränderungen zu ermöglichen.

Einleitung

Organisationen sehen sich heute einer Flut disruptiver Trends gegenüber. Dazu gehören Klimawandel, digitale Vernetzung und veränderte Erwartungen von Kunden und Mitarbeitern. Um diese Komplexität zu bewältigen, reichen klassische Weiterbildungsformate, die lediglich Fakten vermitteln, nicht mehr aus. Unternehmen benötigen Lernprozesse, die Wissen aktiv konstruieren, kritisch hinterfragen und neue Perspektiven verankern.

Genau hier setzt das „Integrative Transformationslernen“ an. Es kombiniert Jean Piagets konstruktivistische Lerntheorie (vgl. Piaget 1972), bei der Bedeutungen aktiv konstruiert werden, mit Jack Mezirows transformativer Lerntheorie (vgl. Mezirow 1991), bei der durch kritische Reflexion ein tiefgreifender Perspektivwechsel erfolgt. In Kombination mit dem Transformationsdesign-Framework entsteht ein leistungsfähiger Ansatz, der nicht nur Kompetenzen schafft, sondern auch die zugrunde liegenden Denkmuster und Werte nachhaltig verändert.

Was ist Integratives Transformationslernen?

Im Folgenden erläutern wir die theoretischen Grundlagen, stellen die strukturelle Verknüpfung mit dem Transformationsdesign dar und zeigen die praktische Umsetzung anhand eines Nachhaltigkeitsprojekts in einem kleinen Autohaus.

Dimension


Konstruktivistische Lerntheorie (Piaget)

Transformatives Lernen (Mezirow)

Integration (Integratives Transformationslernen)

Grundannahmen





Wissen entsteht aktiv, indem Lernende ihre bestehenden Schemata anpassen.



Lernen ist ein tiefgreifender Wandel von Grundannahmen durch kritische Reflexion.



Lernende bauen zunächst eigene Bedeutungsrahmen (Konstruktion) und überprüfen diese anschließend bewußt (Transformation).

Lernmechanismen





Assimilation <-> Akkomodation - kontinuierliche Anpassung an neue Erfahrung.



Disorienting Dilemma -> kritische Reflexion -> Neu-bewertung von Paradigmen.



Der erste Schritt (kognitive Anpassung) erzeugt die kognitive Dissonanz, die im zweiten Schritt zur Reflexion führt.

Rolle des Lernenden



Aktiver Entdecker, experi-mentierend, selbstgesteuert.


Kritischer Reflektor, bereit eigene Vorannahmen zu hinterfragen.

Lernende werden erst aktiv, dann reflexiv - ein Zyklus, der tiefes Lernen ermöglicht.

Rolle des Umfelds





Handlungsorientierte, prob-lembasierte Situationen, die Konflikte erzeugen.



Dialogische, unterstützende Gemeinschaft, die sicheren Raum für kritische Diskussion bietet.


Ein handlungsorientiertes Umfeld erzeugt die kognitiven Konflikte, ein dialogischer Rahmen ermöglicht deren Reflexion und Transformation.

Ergebnis






Erweiterte kognitive Strukturen, neue Fertigkeiten.





Veränderte Sichtweisen, neue Werte- und Handlungs-prinzipien.




Ergebnis ist ein integriertes Kompetenz- und Wertekon-strukt, das sowohl funktional (Fähigkeiten) als auch reflexiv (Perspektiven) ist - optimal für tiefgreifende Transformationen.

Das Integrative Transformationslernen ist somit kein separates Lernmodell, sondern ein zyklischer Prozess, der in vier Phasen abläuft:

  1. Erlebnis‑ und Handlungsphase – aktive Wissenskonstruktion (Piaget).
  2. Kognitive Dissonanz erzeugen – Konfrontation mit widersprüchlichen Daten/Erfahrungen.
  3. Reflexions‑ und Diskursphase – kritische Analyse und Perspektivwechsel (Mezirow).
  4. Integration & Neubewertung – Akkommodation neuer Schemata und Verankerung im organisationalen Kontext.

Verbindung zu Transformationsdesign

Transformationsdesign ist ein systemischer, nutzer- und Stakeholder-zentrierter Ansatz zur Strukturierung von Veränderungsprozessen in komplexen Organisationen. Sein Kern besteht aus fünf Phasen: Entdeckung, Definition, Ideengenerierung, Prototyping und Implementierung.

Transformationsdesign-Phase

Entsprechende Lernphase im integrativen Transformationslernen

Entdeckungs- und Empathiephase


Erlebnis‑ und Handlungsphase – Lernende sammeln reale Daten, beobachten Prozesse und konstruieren erste Bedeutungen.

Definitions- und Zielsetzungsphase


Kognitive Dissonanz erzeugen – Durch das Aufzeigen von Ziel‑Ist‑Diskrepanzen entsteht das disorienting dilemma.

Ideen- und Konzeptionsphase


Reflexions‑ und Diskursphase – Gemeinsame Co‑Creation‑Sessions dienen als dialogischer Raum für kritische Reflexion.

Prototyping- und Testphase


Erlebnis‑ und Handlungsphase (erneut) – Durch das Bauen und Testen von Prototypen wird Wissen erneut konstruiert und erweitert.

Implementierung und Skalierung


Integration und Neubewertung - Die gewonnenen Erkenntnisse werden in Strukturen, Prozesse und Kultur verankert.

Durch diese Synergie entsteht ein Lern- und Designzyklus, bei dem jede Designiteration gleichzeitig einen Lernzyklus darstellt. Das bedeutet, dass jeder Prototyp ein Lernobjekt ist und jede Reflexionsrunde Input für den nächsten Design-Sprint liefert.

Praxisbeispiel: Nachhaltigkeitsprojekt eines Autohauses

Ein familiengeführtes Autohaus mit 15 Mitarbeitenden möchte bis 2026 seine CO₂‑Emissionen um 40 % reduzieren, den Fuhrpark zu 50 % auf Elektro‑/Hybridfahrzeuge umstellen und gleichzeitig die Kundenzufriedenheit erhöhen.

Anwendung des Integrativen Transformations‑Lernens im Transformationsdesign

Phase

Aktivitäten

Lern- und Design-Mechanik

1. Entdeckung und Erlebnis







  • Stakeholder‑Mapping (Mitarbeitende, Kunden, Lieferanten, Kommune)
  • System‑Mapping (Energie‑Flows, Fahrzeug‑Flotte, Abfall)
  • Datenaufnahme (Stromrechnungen, Kilometerstand, Kunden‑Umfrage)

Lernende konstruieren ein erstes Bild des Systems (konstruktivistisch). Das Design‑Team sammelt echte Daten, die später als disorienting Dilemmas dienen.




2. Definition und Kognitive Dissonanz








  • Ziel‑Workshop: Vision „grünes Autohaus“
  • SMART‑Ziele (30 % Ökostrom, 50 % E‑Fahrzeuge, 90 % Recycling)
  • Impact‑Effort‑Matrix: Quick‑Wins (LED, digitale Rechnungen) vs. große Investments (Ladestationen)

Die Diskrepanz zwischen Ist‑Zustand (hoher Stromverbrauch, wenige E‑Fahrzeuge) und Soll‑Zustand erzeugt das disorienting dilemma. Lernende beginnen, ihre bisherigen Annahmen zu hinterfragen.




3. Ideen- und Reflexionsphase









  • Co‑Creation‑Workshop mit Kunden: Entwicklung eines „Green‑Purchase‑Pakets“
  • Kritische Reflexionsrunde: „Welche Werte stehen hinter unserem Energie-verbrauch?“
  • Storyboarding von Service‑Blueprints inkl. neuer Nachhaltigkeits ‑ Touch-points

Durch dialogische Reflexion (Mezirow) prüfen Teilnehmende ihre Grundannahmen (z. B. „Werkstatt muss immer voll laufen“). Neue Perspektiven entstehen, die in konkrete Konzepte fließen.






4. Prototyping und erneutes Erlebnis





  • LED‑Umrüstung im Showroom (Pilot)
  • Digitale Rechnungen für 10 Kunden
  • Installation einer einzelnen Lade-station (Pilot)

Lernende bauen Prototypen, sammeln Messdaten (Stromverbrauch, Nutzungs-häufigkeit) und konstruieren neues Wissen über Wirksamkeit.



5. Test, Evaluation und Integration









  • KPI‑Dashboard (Energie, CO₂, Kundenzufriedenheit)
  • Quartals‑Retrospektiven (Was hat funktioniert? Was muss neu gedacht werden?)
  • Skalierung: Weitere LED‑Leuchten, Ausbau der Ladestationen, Schulungen zum nachhaltigen Werkstattverhalten

Die Erkenntnisse aus Tests werden reflektiert, neu bewertet und in die Unternehmens‑Strategie integriert – damit wird das neue Schema (nachhaltiges Autohaus) verankert.






Ergebnis nach 12 Monaten

KPI

Ausfangswert

Ist-Wert

Veränderung

Stromverbrauch (kWh)

120.000

105.000

-12 % (LED-Pilot)

Anteil Ökostrom

0 %

30 %

+30 % (Vertrag mit Ökostromanbieter)

E-Fahrzeug-Verkauf

5 %

28 %

+23 % (Green-Purchase-Paket)

Recyclingquote (Altöl/Batterien)

55 %

88 %

+33 % (Sammelstation)

Kundenzufriedenheit (NPS)

42

58

+16 Punkte (nach Transparenz-Kampagne)

Die quantitativen Verbesserungen resultieren einerseits aus neuen Kompetenzen, wie beispielsweise der Installation von Ladestationen, und andererseits aus einer veränderten Wertehaltung. Dadurch wird nachhaltiges Handeln zum Identitätsmerkmal des Unternehmens. Beide Ebenen sind das direkte Ergebnis des integrativen Transformationslernens.

Schlussfolgerung

Das Integrative Transformationslernen bildet den pädagogischen Kern, den das Transformationsdesign methodisch nutzt. Durch die enge Verzahnung von aktiver Wissenskonstruktion und kritischer Perspektivreflexion entsteht ein Lern- und Gestaltungszyklus.

  • Komplexität greifbar macht: Lernende erleben das System, erkennen Spannungsfelder und erhalten sofortiges Feedback.
  • Kognitive Dissonanzen werden bewusst erzeugt und in einem sicheren Dialog verarbeitet, wodurch Widerstand reduziert wird.
  • Nachhaltige Verankerung gewährleistet: Neue Kompetenzen und veränderte Werte werden simultan in Prozesse, Strukturen und Kultur eingebettet.

Das Autohaus-Beispiel zeigt, dass bereits nach einem Jahr messbare ökologische Verbesserungen, eine gesteigerte Kundenzufriedenheit und ein stärkeres internes Nachhaltigkeitsbewusstsein erreicht werden konnten. Dies ist ein klares Zeichen dafür, dass Lernen und Design in diesem integrierten Ansatz gemeinsam wirken.

Unternehmen, die ihre Transformationsprojekte zukunftsfähig gestalten möchten, sollten das Integrative Transformationslernen daher als Kernkomponente ihres Design-Toolkits etablieren. Nur so lassen sich tiefgreifende, skalierbare und wertebasierte Veränderungen realisieren.

Fehlt Ihrer Meinung nach etwas in diesem Artikel? Dann lassen Sie es uns wissen, damit wir ihn ergänzen können! Bleiben Sie neugierig!

FAQ zu Integrativem Transformationslernen

Im Folgenden finden Sie Antworten auf häufig gestellte Fragen zum Thema Transformationslernen.

Wie unterscheidet sich das Integrative Transformationslernen von herkömmlichen Trainingsprogrammen?

In traditionellen Trainings wird meist isoliertes Faktenwissen vermittelt. Das integrative Modell verbindet dagegen praktisches Handeln (Konstruktion) mit kritischer Reflexion. Dadurch lernen die Teilnehmenden nicht nur, was sie tun sollen, sondern auch, warum und wie sie ihr Denken und Handeln grundlegend verändern können.

Braucht man für die Umsetzung spezielle Moderatoren oder Facilitators?

Ja, idealerweise sollten Facilitators sowohl Erfahrung im Hands-on-Prototyping (z. B. Design-Thinking-Tools) als auch in dialogischer Reflexion (z. B. Socratic Dialogue, Critical Incident Technique) besitzen. Sie sorgen dafür, dass beide Lernphasen nahtlos ineinandergreifen.

Welche Messgrößen eignen sich, um den Erfolg des Integrativen Transformationslernens zu bewerten?

Neben den klassischen Leistungs-KPIs (z. B. Energieverbrauch, Umsatz) empfiehlt sich die Einführung von Reflexions-KPIs. Dazu zählen die Anzahl kritischer Insight-Statements, die Veränderung von Selbst-Assessment-Scores (z. B. Nachhaltigkeits-Selbstwirksamkeit), die Häufigkeit von Diskussionsrunden und die qualitativen Bewertungen der Werte-Alignment-Umfragen.

Kann das Modell in größeren Unternehmen skaliert werden?

Absolut. Der Prozess ist modular aufgebaut: Einzelne Teams durchlaufen die Lern-Design-Zyklen und führen die Ergebnisse in übergeordneten Community-of-Practice-Runden zusammen. So entsteht ein netzwerkbasierter Lern- und Transformationsrhythmus, der auch in großen Organisationen funktioniert.

Wie lange dauert ein kompletter Lern‑Design‑Zyklus?

Die Dauer hängt vom Umfang des jeweiligen Transformationsprojekts ab. Für ein Pilotprojekt (wie das Autohaus) kann ein Zyklus (Erlebnis → Reflexion → Integration) zwischen vier und acht Wochen liegen. Größere, organisationweite Initiativen benötigen oft mehrere Iterationen über einen Zeitraum von 12 bis 24 Monaten, wobei jede Iteration einen eigenen Lern-Design-Zyklus bildet.

Über den Autor

Dr. Stefan Bleses

Als Systemanalytiker, Betriebspädagoge und Transformationsdesigner arbeite ich mit meinem Team leidenschaftlich daran, Organisationen und Menschen für eine nachhaltige Zukunft zu entwickeln. Schreibt die Welt nicht ab! Schreibt sie neu.

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